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„Sich kein Bildnis machen“

Dieses Lebens-Gesetz aus der hebräischen Bibel beschreibt den Arbeitsstil von W.ORTSPIEL recht gut. Von unserer Lehrerin Ruth Margarete Seils wurden wir an hebräisches Denken und jüdische Theologie herangeführt. Sie betrachtet Bibliodrama als„Befreiungsweg“. In diesem Sinne verstehen wir Bibliodrama als ein immer neues Aufbrechen. Wir machen uns auf den Weg, sind neugierig und offen für Überraschungen. Und wir entdecken Erstaunliches: Die Texte und Geschichten der jüdisch-christlichen Tradition brechen die engen und starren Bilder auf, die wir uns von uns selber und vom Leben gemacht haben. Sie führen uns in die Weite.

Vom Text haben wir auch nach gründlicher exegetischer Vorbereitung lediglich ein erstes, vorläufiges Verständnis. Das Potenzial eines Textes ist weitaus größer als das, was ein einzelner von ihm erfasst.

Was ein Text im Spielgeschehen an Einsichten und Impulsen freisetzt, ist nicht – oder nur zum Teil – vorhersehbar. Der Text wächst mit der Gruppe. Er reagiert auf die Erwartungen und Herausforderungen, die an ihn herangetragen werden. Er ist sperrig, widerborstig, reibt sich an unseren Vorstellungen, durchkreuzt sie. Manchmal stärkt und tröstet er, wo wir es nicht erwartet hätten. Der Text ist ein lebendiges Gegenüber.

Die Teilnehmenden werden gleich zu Beginn der Seminare mit einer grundlegenden Spielregel vertraut gemacht: Sich gegenseitig im Denken und Tun nicht bewerten! Die Kategorien „richtig“ und „falsch“ gibt es nicht im Bibliodrama. Es gibt verschiedene Meinungen und gegenseitiges Feedback und Auseinandersetzung mit den anderen. Dies alles geschieht auf der Basis gegenseitigen Respekts vor dem Anderssein der/s anderen. Es geschieht in dem Wissen, dass es viele, auch scheinbar widersprüchliche Wahrheiten gibt, die alle ihr Recht haben und nebeneinander stehen dürfen. Auch der erste Eindruck, den wir von einer anderen teilnehmenden Person haben, unser Vor-Verständnis und Vor-Urteil ist dazu da, ständig revidiert zu werden. Die andere ist immer anders als ich denke.

Auch das Bild, das die Teilnehmer von sich selbst haben, steht beim Bibliodrama zur Disposition.

Durch das, was ihnen vom Text und von der Gruppe zugemutet und zugeschrieben wird, verändert sich ihr Selbstverständnis. Sie entdecken neue Seiten an sich. Manchmal kommen sie mit ausgeblendeten und verdrängten Wirklichkeiten in Kontakt. Sie experimentieren mit Lebensmöglichkeiten. „Ich probiere Geschichten an wie Kleider“ (Max Frisch in „Mein Name sei Gantenbein“). Indem sie sich auf Bibliodrama einlassen, riskieren sie ihr bisheriges Selbst-Bild. Und am Ende eines Seminarprozesses sind die Teilnehmenden nicht mehr dieselben wie vorher.

Ein wichtiger Aspekt ist dabei für viele Teilnehmer/innen die Entdeckung der Sinne.

Durch Gebärden und Leibarbeit kann eine Wahrheit sinnlich erlebt werden. Das ist für viele eine ganz neue und wertvolle Erfahrung. Das sinnliche Wahrnehmen wird dann noch erweitert durch Experimentieren mit Stimme, Klang und Musik, durch meditativen Tanz und Ausdruckstanz, sowie durch kreatives Gestalten mit Farbe und Ton. Jede/r unserer Leiter/innen hat da eigene Kompetenzen und inzwischen ein eigenes Profil entwickelt. Im Spiel der Sinne entdecken wir Wahrheiten, die wir im bloßen Nachdenken nicht gewinnen würden.

Als Leitende wissen wir nicht schon vorher, wohin der Gruppenprozess uns führen wird. Wir haben kein Lernziel, das wir den Teilnehmer/innen vermitteln wollen. Vielmehr versuchen wir durch Übungen, durch Fragen und Feedback geben, den Teilnehmenden zum Finden ihres eigenen Weges zu helfen. Als Leiter sind wirselber gespannt und neugierig, was sich entwickeln wird. Wir leiten zwar die Gruppe und haben eine gewisse Distanz zum Spielgeschehen. Zugleich sind wir aber auch persönlich und emotional engagiert und mit den Teilnehmer/innen gemeinsam auf einer Entdeckungsreise. Auch als Leitende „erleben“ wir Bibliodrama und werden davon bereichert.